Haltung entwickeln im Fachkontextvon Jens Winter |
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Ausgangslage
An Hochschulen für angewandte Wissenschaften liegt aufgrund des hohen Anwendungsbezugs der Fokus in der Lehre auf der Fach- und Methodenkompetenz, während Diskussionen über Werte und Ethik, Moral und Haltung häufig in ein studiengangübergreifendes Studium generale „ausgelagert“ sind. Die Teilnahme an Lehrveranstaltungen des Studium generale sind zwar in allen Studiengängen verpflichtend, doch meist nur in geringem Umfang bei einem gleichzeitig erfreulicherweise breiten thematischen Angebot im Studium generale. So kommt nur ein Teil der Studierenden – isoliert und vom Studienfach losgelöst – in Kontakt mit ethischen Perspektiven. Dies ist nicht nur bedauerlich, sondern geradezu fatal. Denn einerseits erheben Hochschulen den Anspruch, dass sie Studierende zu verantwortungsvollen Akteuren für ihren weiteren privaten und beruflichen Lebensweg qualifizieren, und andererseits sind Hochschulen ein Ort der Bildung, in dem Studierende Raum und Zeit finden, um sich in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln.
Zielsetzung
Master-Studierende der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Biberach erlernen in der Lehrveranstaltung Asset- und Portfoliomanagement nicht nur fachliches Wissen und Kompetenzen, sondern wenden diese in einem Realplanspiel als Vermögensberater*innen unmittelbar an. Damit wird das traditionelle Kompetenzmodell, in dem Kompetenz als Handlungsfähigkeit verstanden wird, unmittelbar angewandt, jedoch fehlte noch die Dimension „Werte“. Die Relevanz und insbesondere das Entwickeln und Innehaben einer persönlichen Haltung und eines Standpunkts ist jedoch ein zentrales Element von Kompetenzentwicklung. Daher wurde das bestehende Lehrlernsetting um eine wertorientierte und ethische Perspektive erweitert, indem Studierende in konkreten fachlichen Situationen eine moralische Position reflektieren und beziehen müssen.
Umsetzung
Die ethische Perspektive wurde mittels eines vierstufigen Ansatzes in die Lehrveranstaltung integriert:
- Kennenlernen: Es wurde ein Online-Selbstlernmodul erstellt, in welchem die Studierenden ethische Grundlagen kennenlernen. Mehrere Interviews mit realen Wirtschaftsakteuren bringen verschiedene Perspektiven aus der Wirtschaft ein und verdeutlichen, ethisches und wertorientiertes Handeln und Entscheiden keine akademische Fragstellung, sondern Alltag im Berufsleben ist.
- Erfahren: Die im Realplanspiel auftretenden Persona wurden um eine ethische Komponente erweitert. Mit dieser werden die Studierenden in ihrer Rolle als Vermögensberater*innen im Verlauf des Planspiels konfrontiert.
- Fragen und Zuhören: Die Studierenden führen selbst vorbereitete, strukturierte Interviews mit Menschen, die ihre Perspektive zu Finanzethik schildern.
- Positionieren: In einem auf VR-Basis selbst entwickelten Computerspiel werden die Studierenden vor Dilemma-Situationen gestellt und müssen sich entscheiden. Ein moderierter Workshop führt alle Perspektiven zusammen.
Übertragbarkeit und Nachhaltigkeit
Das neu entwickelte Lehrkonzept verzahnt digitales Lernen, Gruppenarbeit und persönliche Reflexion. Die Studierenden erproben, wie Werte und ethische Haltungen ihr Handeln prägen. Wesentlich ist dabei, dass diese ethische Dimension eine unmittelbare Verzahnung in den fachlichen Kontext hat. Das Konzept ist inzwischen nicht nur fester Bestandteil des Masterstudiengangs BWL der Hochschule Biberach, sondern kann auf andere Studiengänge und Hochschulen übertragen werden. Die digitalen Lehrinhalte sind flexibel und skalierbar. Die Verstetigung im Curriculum garantiert die nachhaltige Wirkung.
Evaluation und Wirkung
Die Wirksamkeit wurde durch Evaluationen, Reflexionsberichte und Kompetenzmessungen überprüft. Hervorgehoben wurde von Studierenden, dass sie durch die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen neue Denkanstöße für ihr persönliches und berufliches Handeln erhielten. Erste Evaluationen zeigen eine hohe Akzeptanz und nachhaltige Wirkung auf die Wertebildung.
Wurden die Studierenden durch das Realplanspiel zu unmittelbar in einem realitätsnahen Setting aktiv Lernenden, so agieren wir Lehrende (das Lehrteam besteht aus zwei Lehrbeauftragten aus der Berufspraxis und mir) in verschiedenen Rollen: Lehrende in den Online-Tutorials bzw. in Präsenzlehrveranstaltungen, wir schlüpfen in die Rolle des Kunden, beobachten und bewerten die Gesprächssituationen und Präsentationen im Realplanspiel sowie agieren wir als beratende Senior-Kollegen in der fiktiven Bank für die Studierendenteams.
Der Großteil der Studierenden befasst sich im Rahmen dieser Lehrveranstaltung zum ersten Mal mit dem Thema Kapitalanlage, wenngleich viele der Absolventen später dank ihres Einkommens selbst zu Privatinvestoren werden. Bemerkenswert in den Rückmeldungen der Studierenden ist, dass nicht die fachliche Dimension die größte Herausforderung im Semesterverlauf darstellt, sondern die Zusammenarbeit im Team. Neben den organisatorischen Aspekten der Teamzusammenarbeit und den bekannten Konfliktpotentialen wie Arbeitsteilung merken die Studierenden an, dass das Investieren zum einen Entscheidungen im Team erfordert, die von jedem gegenüber dem Kunden vertreten werden müssen, auch wenn sie nicht die persönliche Perspektive widerspiegeln, und zum anderen Investieren eine ethische Komponente hat und hier unterschiedliche Positionen im Team hervortreten. Studierende reflektieren insbesondere, dass die vermeintlich fachliche Investitionsentscheidung hochgradig mit ethischen Aspekten verwoben ist. Hierfür gibt es kein richtig oder falsch, sondern nur ein passend oder nicht. Sie beschreiben auch, dass die Positionierung ein Verarbeiten und Abwägen von Informationen und Aussagen in Diskussionen erfordert, die nicht unmittelbar zu Entscheidungen führen, sondern in ihnen reifen müssen. Studierende berichten, dass sie erstmals die Aspekte Investition und Haltung miteinander verknüpft haben und sie sich so besser vorbereitet fühlen für künftige Auseinandersetzungen mit Werten.
Ausblick
Durch die Durchführung in mehreren Kohorten und die damit verbundenen Selbsteinschätzung / -evaluationen und Reflexionsberichte soll eine solide Datenbasis für eine Wirkungsanalyse generiert werden. Mit dieser soll untersucht werden, wie der vierstufige Ansatz und die Verzahnung von Ethik, Moral und Haltung mit der Fachperspektive bei den Studierenden wirken. Des Weiteren wird das Lehrkonzept auf die Bachelor-Vorlesung „Big Data und Data Science“ adaptiert, denn auch der verantwortungsvolle Einsatz von Künstlicher Intelligenz bedarf einer Haltung.