Zum Hauptinhalt springen

Orchesterstudien realitätsnah vermitteln

Erfahrungen aus einem Lehrprojekt mit NomadPlay

von Martin Hennecke

2023–2024 habe ich am Zertifikatsprogramm „Die Kunst der Lehre“ des Netzwerk Musikhochschulen 4.0 teilgenommen. Dieses Programm bringt Lehrende verschiedener Musikhochschulen zusammen und bietet ihnen die Möglichkeit, die eigene Lehrpraxis weiterzuentwickeln, didaktische Perspektiven zu erweitern und neue Formate auszuprobieren. Ein zentraler Bestandteil ist ein eigenes Lehrprojekt, das direkt im Hochschulalltag verankert ist und eine konkrete Herausforderung der Lehre aufgreift.

Im Mittelpunkt meines Lehrprojekts stand die Frage, wie Studierende im Fach Orchesterstudien besser auf die tatsächlichen Anforderungen des Orchesterberufs vorbereitet werden können. Der traditionelle Unterricht konzentriert sich häufig auf das technisch saubere Vorbereiten von Probespielstellen. Diese sind zweifellos wichtig, bilden jedoch nur einen kleinen Teil dessen ab, was im Alltag eines Orchesters gefordert ist. Dort geht es vor allem um Zusammenspiel, klangliche Anpassungsfähigkeit, situatives Entscheiden, Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen sowie um das Verständnis der eigenen Rolle im Klanggefüge. Diese Aspekte lassen sich im Einzelunterricht nur bedingt abbilden.

Genau hier setzte mein Projekt an. Ziel war es, Lernsituationen zu schaffen, die näher an den späteren Beruf heranführen und den Studierenden ermöglichen, typische professionelle Handlungssituationen bereits im Studium zu erfahren. Die App NomadPlay wurde dabei nicht als digitales Innovationsprojekt genutzt, sondern als Mittel, um einen Lernraum zu öffnen, der dem realen Orchestergefüge ähnlicher ist als das isolierte Üben einzelner Stimmen.

WIE ENTSTEHT REALITÄTSNAHES LERNEN IM ORCHESTERSTUDIENUNTERRICHT?

Die App ermöglichte es, gemeinsam mit Aufnahmen professioneller Orchester zu üben und dabei anstelle der aufgenommenen Paukerin oder des Paukisten in den Klang einzutreten. Dadurch verlagert sich der Schwerpunkt des Lernens: Der Blick richtet sich weniger auf die Perfektion der eigenen Stimme, sondern stärker auf das Verhältnis der Stimme zum Gesamtklang. Für viele Studierende war dies ein entscheidender Perspektivwechsel. Sie erlebten unmittelbar, dass klangliche Entscheidungen nur im Zusammenhang mit den anderen Instrumenten sinnvoll getroffen werden können.

Aus hochschuldidaktischer Sicht entspricht dies einem Lernen, das den späteren Berufsalltag antizipiert. Studierende arbeiten nicht mehr nur an technischem Können, sondern an Kompetenzen, die im Orchester zentral sind: Orientierung im Klang, Abstimmung, Reaktionsfähigkeit, Hörsensibilität und das Bewusstsein für Verantwortung im musikalischen Gesamtprozess.

Lernarrangements am Orchesteralltag

Das Projekt wurde als monatlicher Gruppenunterricht gestaltet, um die soziale Dimension des Orchesterberufs ebenfalls abzubilden. Die Studierenden bereiteten Sätze vor, spielten sie unter  realistischen Klangbedingungen vor und reflektierten anschließend gemeinsam. Diese Kombination aus eigenständigem Erarbeiten, Präsentation, Peer-Feedback und gemeinsamer Analyse führte zu intensiven Lernprozessen, die deutlich über das reine Einstudieren einer Orchesterstelle hinausgingen. In den Gesprächen zeigte sich, dass die Studierenden zunehmend aus einer „Orchesterperspektive“ dachten: Welche Funktion hat meine Stimme? Wem folge ich? Wer folgt mir? Wie verändert sich mein Klang, wenn ich wirklich Teil eines großen Ganzen bin? Diese Form des kontextbezogenen Lernens ist zentral für die professionelle Handlungskompetenz im Orchestermusikerberuf.

Realitätsnahe Lernerfahrungen im Projektverlauf

Während des Projekts veränderte sich die Art, wie Studierende ihre Orchesterstellen spielten, hörten und dachten. Sie begannen stärker wahrzunehmen, welche Instrumente im Verlauf eines Satzes mit ihnen agieren. Viele berichteten, dass sie erstmals bewusst auf Phrasierungen anderer Stimmen reagierten und dadurch ihre eigene Interpretation anpassten. Damit wurde genau das eingeübt, was in einem Orchester täglich notwendig ist.

Es war außerdem zu beobachten, dass das Üben im Klangkontext eine neue Form der Selbstregulation anregte: Studierende kontrollierten ihr Timing anhand des Orchesterklangs, nicht anhand einer abstrakten Vorstellung. Zwei von ihnen übernahmen die Arbeitsweise unmittelbar für ihre Vorbereitung auf Proben des Hochschulorchesters. Damit wurde deutlich, dass realitätsnahe Lernformen auch nachhaltiger wirken.

Herausforderungen und Grenzen

Natürlich gab es auch Einschränkungen. Bei Werken mit starker Agogik fehlte die visuelle Orientierung an einer Dirigentin oder einem Dirigenten, was zu einer nur teilweise realistischen Situation führte. Als größere Herausforderung erwies sich jedoch die technische Abhängigkeit: Seit Januar 2024 ist der Server der App offline, da das Unternehmen insolvent wurde. Das zeigt, dass digitale Werkzeuge zur Realitätsnähe beitragen können, sich aber nicht dauerhaft als verlässlicher Bestandteil des Curriculums eignen, wenn ihre Stabilität nicht gesichert ist.

Hochschuldidaktische Erkenntnisse

Aus didaktischer Sicht hat das Projekt gezeigt, dass ein realitätsnaher Orchesterstudienunterricht nicht nur durch technische Innovationen entstehen kann, sondern durch Lernarrangements, die wesentliche berufliche Kompetenzen direkt erfahrbar machen. Digitale Hilfsmittel können dabei eine Rolle spielen, sind aber nur dann sinnvoll, wenn sie den authentischen Kontext erweitern.

Die wichtigste Erkenntnis war, dass Studierende deutliche Fortschritte machen, sobald sie in musikalische Situationen versetzt werden, in denen sie sich als Teil eines Ensembles erleben. Dies führt zu einem Lernen, das handlungsorientiert, situativ und kontextbewusst ist und damit den Anforderungen des Orchestermusikerberufs deutlich näherkommt als rein technisches Üben.

Ausblick

Auch wenn NomadPlay momentan nicht verfügbar ist, bleibt der zentrale Gedanke des Projekts bestehen: Orchesterstudien sollten Lernumgebungen schaffen, die die Realität des Orchesters möglichst früh erfahrbar machen. Dazu gehört nicht nur das Beherrschen der eigenen Stimme, sondern auch das Einfügen in ein größeres musikalisches Gefüge. Digitale Hilfsmittel können dazu beitragen, ersetzen den analogen Unterricht jedoch nicht. Entscheidend bleibt die Frage, welche Lehrarrangements Studierenden ermöglichen, das zu erleben, was im späteren Beruf entscheidend ist: gemeinsames, kommunikatives und kontextsensibles Musizieren.